Der wahre Meister des Konfliktmanagements

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Professionelles Konfliktmanagement ist zweifellos nicht nur eine ausgesprochen hilfreiche, sondern zugleich auch eine höchst anspruchsvolle Kunst. Dazu kann man Einiges auch von den fernöstlichen Kampfkünsten lernen. Und auch dort gibt es Anfänger, Fortgeschrittene, und wahre Meister. Im folgenden aus der Ich-Perspektive die Geschichte eines Amerikaners, der in Japan drei Jahre lang tagtäglich acht Stunden lang Aikido, eine fernöstliche Kampfkunst, trainiert hatte. Und eines Tages in der U-Bahn, da war er nur um Haaresbreite davon entfernt, seine Kunst einzusetzen, und einen betrunkenen Randalierer mit Gewalt zu stoppen. Bis ein wahrer Kampfkunst-Meister auf die Bildfläche trat…


Die U-Bahn ratterte durch einen Außenbezirk von Tokio. In unserem Waggon saßen an diesem Nachmittag nur wenige Leute. Einige Hausfrauen mit Kindern, ein paar alte Leute mit Einkaufstaschen. Als an einer der Haltestellen die Türen öffneten, wurde die friedvolle Stille durch einen laut und grob fluchenden Mann jäh beendet. Er taumelte durch die Tür, er war groß, betrunken, verdreckt. Ein Hüne. Als er abrupt und eine wüste Drohung grölend auf eine junge Frau mit Baby stürzte, stolperte diese vor Angst auf ein sitzendes älteres Ehepaar. Es war ein Wunder, dass dem Baby nichts passierte.

Die alten Leute sprangen verschreckt auf und versuchten zitternd, halb laufend, halb auf den Knien rutschend, ans andere Ende des Waggons zu gelangen. Der Randalierer versuchte, die flüchtende Frau noch mit einem brutalen Tritt zu erwischen, verfehlte sie aber knapp und traf nur eine stählerne Festhalte-Stange. Das brachte ihn derart in Rage, dass er die Stange packte und versuchte, sie aus der Verankerung zu reißen. Ich konnte sehen, dass er dabei eine seiner Hände aufschnitt und blutete.

Die U-Bahn rollte voran, alle Insassen starr vor Angst. Ich stand auf.

Ich war damals jung und äußerst gut in Form. Ich hatte die letzten drei Jahre lang täglich volle acht Stunden lang Aikido-Kampfkunst trainiert. Als Aikido-Schülern war uns echtes Kämpfen allerdings nicht erlaubt. „Aikido“, so hatte mein Lehrer wieder und wieder betont, ist die Kunst des Ausgleichs und der Versöhnung. „Wenn du Leute dominieren willst, hast du schon verloren. Wir lernen, wie man Konflikte auflöst, und nicht, wie man sie beginnt.“

Ich hörte seine Worte wohl. Und doch hoffte ich immer auf eine Gelegenheit, wo ich Unschuldige retten konnte, indem ich Bösewichte vernichtete.

„Dies ist es!“, sagte ich zu mir selbst, als ich aufstand. Menschen waren in Gefahr. Ohne meine Hilfe würde es vermutlich Verletzte geben.

Als er mich aufstehen sah, erkannte der Betrunkene eine Chance, sein Mütchen zu kühlen. „Aha!“ röhrte er. „Ein Ausländer! Du brauchst eine Lektion in japanischen Manieren!“

Im Bewusstsein meiner souveränen Überlegenheit schaute ich ihn verächtlich und provozierend an. „Ok“, brüllte er. „Du sollst Deine Lektion kriegen!“ und schickte sich an, sich auf mich zu stürzen.

In diesem Augenblick rief jemand „Hey!“. Ich erinnere mich noch heute an diesen merkwürdig fröhlich-trällernden Tonfall. Wir drehten uns beide dieser Stimme zu und starrten hinunter auf einen kleinen alten Japaner. Er muss gut in den Siebzigern gewesen sein, dieser kleine Gentleman, in seinem makellos ordentlichen Kimono.

„Komm her“, sagte der alte Mann freundlich winkend zu dem Hünen. „Komm her und rede ein bisschen mit mir.“ Der Betrunkene pflanzte sich vor ihm auf und brüllte ihn an „Warum zur Hölle sollte ich mit Dir reden?“ Er hatte mir nun den Rücken zugekehrt. Wenn er seine Hand auch nur einen einzigen Millimeter gegen den alten Mann senken würde, würde ich ihn auf der Stelle niederschlagen.

Der alte Mann redete freundlich weiter. „Was hast Du denn getrunken?“, seine Augen leuchteten interessiert. „Ich hab Reisschnaps getrunken“ bellte der Hüne zurück, „aber das geht Dich einen Scheißdreck an!“

„Oh, das ist ja wunderbar,“ antwortete der alte Mann, „absolut wunderbar! Weißt Du, ich liebe Reisschnaps ebenfalls sehr. Jede Nacht wärmen meine Frau und ich, sie ist übrigens 76, weißt Du, ein kleines Fläschchen Reisschnaps auf, bringen es in den Garten, und setzen uns auf eine alte Holzbank. Wir beobachten den Sonnenuntergang, und wir schauen, wie es unserem Pflaumenbaum geht. Mein Urgroßvater hat diesen Pflaumenbaum gepflanzt, und wir machen uns ein bisschen Sorgen, ob er sich von diesen Eisstürmen des letzten Winters wieder erholen wird. Der Baum hat sich viel besser entwickelt, als ich das zu hoffen gewagt hatte, insbesondere, wenn Du berücksichtigst, wie schlecht die Bodenqualität dort eigentlich ist. Es ist ein sehr befriedigendes Gefühl, ihn zu sehen, während wir unser Fläschchen Reisschnaps genießen.“ Er schaute den Betrunkenen an und seine Augen funkelten fröhlich.

Als er sich mühte, der Konversation des alten Mannes zu folgen, wich nach und nach die Wut aus dem Gesicht des Betrunkenen. Seine Fäuste entkrampften sich. „Ja…“, meinte er, „Ich liebe ebenfalls Pflaumenbäume…“ und seine Stimme verlor sich.

„Ja“, lächelte der alte Mann. „Und ich bin sicher, du hast eine ganz wundervolle Frau.“

„Nein,“ erwiderte der andere. „Mein Frau ist gestorben.“ Und ganz sachte mit der Bewegung der U-Bahn sich hin- und her wiegend begann dieser große Mann zu schluchzen. „Ich hab keine Frau nicht, ich hab kein Zuhause nicht, ich hab keinen Job nicht. Ich schäme mich so sehr vor mir selbst.“ Tränen rollten seine Wangen hinunter, Krämpfe der Verzweiflung schüttelten seinen Körper.

Und ich stand da, gerade eben noch in meiner blankpolierten jugendlichen Unschuld und meiner naiven „Mache diese Welt zu einem sicheren Platz für Demokratie“-Rechtschaffenheit, und fühlte mich nun plötzlich sehr viel elender als all der Schmutz der Kleidung dieses schluchzenden Mannes.

Die U-Bahn erreichte inzwischen meine Zielhaltestelle. Als die Türen aufgingen, hörte ich den alten Mann noch mitfühlend sagen „Oh, oh, das ist wirklich eine schlimme Situation. Komm, setz Dich und erzähl mir davon.“

Ich drehte mich ein letztes Mal um zu den Beiden. Der große Mann lag langgestreckt auf der Sitzbank, den Kopf auf des alten Mannes Schoß. Dieser streichelte sanft seine schmutzig-verfilzten Haare.

Als die U-Bahn abfuhr, setzte ich mich auf eine Bank. Was ich mit Muskeln hatte erreichen wollen, war dem alten Mann alleine mit freundlichen Worten gelungen. Ich hatte das Wesen von Aikido in höchster Vollendung miterlebt. Ich würde diese Kunst mit einer vollständig anderen Haltung und einem völlig anderen Geist üben müssen. Es würde noch lange dauern, bis ich über gewaltfreie Konfliktlösung würde reden können.


(Nach Terry Dobson: Aikido in Action)

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